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Werte im Wandel

MedPort - Thema des Monats - Arteriosklerose - Werte im Wandel
 
  
 
 

Die Veränderung des "Normalen"


Hans-Ulrich Klör

Die Beurteilung der arteriosklerotischen Gefäßerkrankungen hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten stark gewandelt. Betrachtete man damals die Arteriosklerose im fortgeschrittenen Lebensalter als physiologischen Alterungsvorgang, so wird die Arteriosklerose heute generell als Krankheitsprozess aufgefasst. Die klinischen Folgen der Arteriosklerose werden auch im höheren Lebensalter (75 bis 85 Jahre) nicht mehr als normal oder physiologisch angesehen und entsprechend angegangen. Das bedeutet, dass die Risikofaktoren auch im höheren Lebensalter diagnostiziert und therapiert werden müssen.

Während noch vor wenigen Jahren die Tendenz bestand, die Richtwerte und Empfehlungen für die beeinflussbaren Risikofaktoren (Bluthochdruck, Fettstoffwechsel, Diabetes mellitus u.a.) altersabhängig zu definieren, ist dies heute - gestützt durch eine Vielzahl von Interventionsstudien - nicht mehr haltbar. Der "Erfordernis-Hochdruck" des älteren Menschen, definiert als systolischer Blutdruck 100 plus Lebensalter (170 mm/Hg bei 70-Jährigen), existiert nicht mehr. Der Begriff des "Alters-Diabetes" wurde fallen gelassen. Bei den Lipiden ist der Grenzwert des Gesamtcholesterins von 200 plus Alter (270 mg/dl beim 70-Jährigen) längst hinfällig.

In allen prospektiven Studien (also vorhersagenden Studien, z. B. Procam) wird die Genetik, d. h. die familiäre Belastung als ein wesentlicher Risikofaktor hervorgehoben. Liegt eine familiäre Belastung vor, müssen daher die beeinflussbaren Risikofaktoren besonders intensiv therapiert werden. Allein in Bezug auf das Rauchen hat sich in den letzten Jahren kein Wandel der Beurteilungskriterien ergeben. Seit der Framingham Studie ist der negative Effekt des Rauchens immer wieder bestätigt worden. Allerdings konnte bei Rauchern eine KHK-Risikoreduktion durch eine Lipidsenkung erreicht werden (WOSCOPS-Studie). Das in der Praxis manchmal geäußerte Argument, dass eine Risikofaktoren-Intervention bei einem Raucher sowieso nichts nütze, ist demnach nicht haltbar.


Quelle: Stiftung zur Prävention der Arteriosklerose
Dass die Hypertonie eine wichtige Rolle als Risikofaktor der Arteriosklerose spielt, ist spätestens seit den 70er Jahren bekannt. Die Bedeutung für die Arteriosklerose der Hirngefäße ist allerdings viel größer als die für die koronare Herzkrankheit (KHK). Die Normen für Diagnose und Therapie der Hypertonie haben sich in letzter Zeit in einigen Punkten gewandelt. Während sich die Einschätzung der mittelschweren und schweren Hypertonie kaum geändert hat, ist die Trennschärfe zum "Normalen" größer geworden. Der Begriff der leichten ("milden") Hypertonie sowie der des "isolierten systolischen Hypertonus" sind hinzugekommen. Nach Empfehlungen der Hochdruckliga wird wie folgt eingeteilt (systolischer Wert in mmHg / diastolischer Wert in mmHg):
  1. milde Hypertonie: >140 bis <179 / >90 bis <104
  2. mittelschwere Hypertonie: >180 bis <209 / >105 bis <114
  3. schwere Hypertonie: >210 / >115
  4. isolierte systolische Hypertonie: >140 / <90
Therapieziel ist stets ein Wert unter 140/90 mmHg. Bei Diabetes, Niereninsuffizienz und Herzinsuffizienz sollten Werte unter 130/80 mmHg erreicht werden.
Auch beim Risikofaktor Diabetes mellitus sind die Kriterien der diagnostischen und therapeutischen Beurteilung in jüngster Zeit verschärft worden. So hat die American Diabetes Association (ADA) in den letzten drei Jahren Empfehlungen herausgegeben, die von den europäischen Gremien weitgehend übernommen wurden.
  1. Vorstufen des Diabetes:
    - Plasma-Glucose (nüchtern): >110 bis <16 mg/dl
    - 2-Stunden-Wert des oralen Glucose-Toleranztests: >140 bis <200 mg/dl
  2. Manifester Diabetes mellitus:
    - klinische Symptome plus Glucose >200 mg/dl
    - Plasma-Glucose (nüchtern): >126 mg/dl
    - 2-Stunden-Wert des oralen Glucose-Toleranztests: >200 mg/dl
Ein optimaler Glucosestoffwechsel ist bei einem HbA1c-Wert von 6,0 bis 6,5 Prozent erreicht.

Im Gegensatz zu anderen Risikofaktoren ist die Adipositas nicht direkt mit der Atherogenese verknüpft. Sie wirkt indirekt über eine negative Beeinflussung von Glucose- und Lipidstoffwechsel, Blutdruck und Blutgerinnung. Die Ergebnisse großer Studien (Framingham, Nurses' Health Study) haben den Zusammenhang zwischen dem Grad der Adipositas und deren Auswirkung auf die Arteriosklerose präzisiert. Neben der Erfassung der Körpermasse als Body Mass Index (BMI, kg/m2) ist vor allem das Fettverteilungsmuster (gynoide oder androide Adipositas) von Bedeutung. Der Adipositas-Typ wird über den Taillenumfang oder den Taillen-Hüftumfang (Waist-Hip-Ratio, WHR) definiert. Der Taillenumfang sollte beim Mann nicht über 94cm und bei der Frau nicht über 80 cm liegen. Der Taillen-Hüftumfang sollte beim Mann < 1.0 und bei der Frau < 0.85 betragen.

Die Einteilung der Adipositas (nach BMI) erfolgt gemäß den Empfehlungen der Deutschen Adipositas Gesellschaft:
1) Normalgewicht: 18,5 bis 24,9
2) Übergewicht: 25,0 bis 29,9
3) Adipositas Grad I: 30,0 bis 34,9
4) Adipositas Grad II: 35,0 bis 39,9
5) Adipositas Grad III: >40,0
Als erfolgreiche Therapie wird heute schon ein dauerhafter Gewichtsverlust von 5 bis 10 Prozent angesehen.
Das Problem des "Normalen" war, historisch gesehen, bei den Blutfetten besonders schwierig zu beantworten. Anfangs wurde nur die familiäre Hypercholesterinämie mit einem Gesamtcholesterinwert deutlich über 350 mg/dl als pathologisch erachtet. Später begnügte man sich damit, mit dem Alter zunehmende "Normalwerte" zu definieren. Erst die Ergebnisse großer Prospektivstudien (Framingham, MRFIT u.a.) haben den Zusammenhang zwischen den Cholesterinwerten und dem KHK-Risiko zu präzisieren vermocht. Eine weitere Differenzierung erfolgte durch die epidemiologische Erfassung der Cholesterin-Fraktionen LDL-Cholesterin, HDL-Cholesterin und VLDL-Cholesterin in den späten 70er Jahren. Hieraus ergaben sich die Einführung weiterer Risikoparameter wie Gesamtcholesterin/HDL-Cholesterin-Ratio, LDL-/HDL-Cholesterin-Ratio, Non-HDL-Cholesterin (in der Helsinki- Studie zuerst eingesetzt). Als relativ gut brauchbarer Parameter hat sich nur die LDL-/HDL-Cholesterin-Ratio behauptet.

Nach den Vorschlägen der Lipidliga gelten folgende Kriterien für die Diagnose:
  1. Isolierte Hypercholesterinämie: Gesamtcholesterin >200 mg/dl, LDL/HDL >3, Triglyceride <200 mg/dl
  2. Gemischte Hyperlipidämie: Gesamtcholesterin >200 mg/dl, LDL >160 mg/dl, Triglyceride >200 mg/dl
  3. Isolierte Hypertriglyceridämie: Triglyceride >200 mg/dl, LDL <160 mg/dl,
  4. Chylomikronämie: Triglyceride >1000 mg/dl
Folgende Therapieziele sind anzustreben:
  1. Bei isolierter Hypercholesterinämie:
    a) weniger als 2 weitere Risikofaktoren: LDL <160 mg/dl, LDL/HDL <3
    b) mehr als 2 weitere Risikofaktoren: LDL <130 mg/dl, LDL/HDL <3
    c) manifeste Atherosklerose: LDL <100 mg/dl, LDL/HDL <3
  2. Gemischte Hypercholesterinämie: LDL-Werte wie unter 1a) bis 1b) beschrieben reduzieren, Triglyceride <200mg/dl
  3. Isolierte Hypertriglyceridämie: Triglyceride <200 mg/dl, bei Diabetes mellitus und hohem Risiko <150 mg/dl
In den kommenden Jahren ist eine Korrektur der Richtwerte für Diagnose und Therapie nach unten zu erwarten. Erste Ergebnisse noch laufender oder gerade abgeschlossener Interventionsstudien sprechen dafür, dass der Zielwert für das LDL-Cholesterin noch unter 100 mg/dl, möglicherweise bei 70-80 mg/dl angesetzt werden muss. Erst bei diesen Werten wäre demzufolge nich mehr mit einem Einfluss der gefäßschädigenden Lipoproteine auf die Arteriosklerose zu rechnen. Diese Erkenntnisse würden dann letztlich auch die zu empfehlenden Normalwerte beeinflussen. Eine Korrektur des Richtwertes für das Gesamtcholesterin auf unter 150 mg/dl erscheint dann möglich.

Prof. Dr. med. Hans-Ulrich Klör
Medizinische Klinik III und Poliklinik
Rodthohl 6
35385 Gießen

Stiftung zur Prävention der Arteriosklerose
Organisationsbüro Bodelschwinghstraße 17
22337 Hamburg