Eine
ganz normale Szenerie: Frau K., bis vor einem Jahr berufstätige Mutter und
Hausfrau, steht an der Käsetheke des Supermarktes, schaut auf den Einkaufszettel
und bestellt bei der Verkäuferin ein Pfund Käseaufschnitt. Als die Verkäuferin
fragt, ob sie lieber Gouda oder Leerdamer hätte, blickt Frau K. etwas hilflos
auf den Einkaufszettel. Dann antwortet sie, daß sie doch lieber ein Pfund
Käseaufschnitt haben wolle. Die Verkäuferin ist irritiert und fragt noch
einmal nach der bevorzugten Käsesorte. Frau K. scheint diese einfache Frage
nicht zu verstehen, ihr Gesicht nimmt einen ärgerlichen Ausdruck an und
sichtlich wütend entgegnet sie, daß die Verkäuferin ihr, wenn schon keinen
Käseaufschnitt, dann wenigstens ein Pfund Wurstaufschnitt geben solle. An
diesem Punkt wird die Neuropsychologin aktiv, die Frau K. während des gesamten
Einkaufs begleitet und verhindert gezielt eine weitere Eskalation.
Es
ist nicht das erste Mal. Daß Frau K. sehr schnell und scheinbar ohne äußeren
Anlaß wütend wird. Dabei war sie vor ihrem Autounfall, bei dem sie sich
ein schweres Schädel -Hirn Trauma mit Blutungen im vorderen Hirnbereich
zuzog, ein sehr friedliebender Mensch. Aber seit dieser Hirnverletzung kann
sie Gefühle von Ärger und Wut kaum noch kontrollieren. Und dies ist nicht
die einzige Veränderung. Frau K. hat große Schwierigkeiten mit bestimmten
Denkleistungen. In der Einkaufssituation etwa gelingt es ihr nicht, den
gewünschten "Käseaufschnitt" als Bezeichnung für eine Übergeordnete Klasse
zu begreifen, in der viele einzelne Käsesorten zusammengefaßt werden können.
Den "Käseaufschnitt" faßt sie als eine weitere Käsesorte auf genauso wie
Gouda oder Leerdamer. Von daher scheint Ihr die Nachfrage der Verkäuferin
völlig unverständlich.
Unverständliche
Situationen aber rufen Unsicherheit, Angst und auch Ärger hervor. Sind diese
Gefühle dann nicht mehr angemessen kontrollierbar, können die alltäglichsten
Situationen zu kleinen und großen sozialen Katastrophen führen.
Solche Veränderungen im Denken, Erleben und Verhalten werden in der
Literatur oft unter dem Begriff des "Frontalhirnsyndroms" zusammengefaßt.
Neben den oben beschriebenen Störungen der Abstraktionsleistung und der
Gefühlskontrolle gehören hierzu u. a. auch Störungen des Bewertens und Vergleichens,
Fehleinschätzung sozialer Situationen, vorschnelles Handeln sowie oftmals
große Schwierigkeiten in der Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung.
Der
Alltag als Therapie- und Diagnosefeld
Sichtbar
werden solche Auffälligkeiten in der Regel erst im konkreten Alltag. In
den ersten Stadien der stationären ;rperlichen
Defizite, die nach einem schweren Schädel Hirn Trauma auftreten können.
Zudem werden die Patienten währen dieser ersten Phase naturgemäß in allen
alltäglichen Belangen weitestgehend vom Klinikpersonal versorgt, so daß
die beschriebenen Auffälligkeiten manchmal gar nicht bemerkt werden können.
Erst wenn die Patienten auch wieder sozial gefordert sind, wenn sie sich
wieder in der Familie, am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis bewegen müssen,
werden diese Veränderungen plötzlich sichtbar und verändern oftmals eine
Wiedereingliederung in die normale Lebens- und Arbeitswelt.
Ein
neues Konzept
Gerade
diese Erfahrungen hat dazu geführt, daß in der Neurologischen Klinik Westend
in Bad Wildungen ein neues Behandlungskonzept für Schädel-Hirn-Verletzte
Patienten erfolgreich eingeführt wurde. Unter der Leitung der Diplom-Psychologin
und klinischen Neuropsychologin Frau Dr. Schoof-Tams (Leiterin der Abteilung
Neuropsychologie) wurde erstmals 1994 eine eigenständige Station eröffnet
mit dem Ziel, hirnverletzte Patienten schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt
in der Rehabilitation in Wohngruppen alltagsnah neuropsychologisch zu behandeln.
In
einer eigens gestalteten Umgebung können die Patienten konkret erleben,
welche Schwierigkeiten bei der Alltagsbewältigung bestehen und wie man mit
ihnen sinnvoll umgehen kann. In der Situation der Kleingruppe (8 Patienten
pro Station) werden die Mitpatienten zum Spiegel für die eigenen Probleme
und zeigen zugleich sichtbare Beispiele gelungener Problemlösung.
Nicht zuletzt ermöglicht die therapeutische Wohngruppe eine Atmosphäre,
in der es dem Patienten vielleicht zum ersten Mal gelingen kann, die eigenen
Grenzen zu akzeptieren und mit ihnen produktiv umzugehen.
Darüber hinaus werden hier auch Arbeitsprozesse etwa im Rahmen von
Belastungen simuliert, so daß schon frühzeitig Schwierigkeiten erkannt und
behandelt werden können.
Dabei
kommen in der neuropsychologischen Diagnostik und Behandlung eine Vielzahl
wissenschaftlich abgesicherter Verfahren zum Einsatz. Klassische Testuntersuchungen
und Funktiontherapien (bspw. Behandlung von Aufmerksamkeits- oder Wahrnehmungsstörungen)
werden genauso effektiv eingesetzt wie verhaltenstherapeutische Techniken
zur Änderung unangemessenen Verhaltens oder analytische Betrachtungsweise
im Rahmen der oft unverzichtbaren Beziehungs- und Motivationsarbeit. Da
sich die Patienten zumeist in einem noch frühen Stadium der Rehabilitation
befinden, steht neben der regelmäßigen ärztlichen Präsenz ein komplettes
Team von Krankengymnasten und Ergotherapeuten für die jeweils notwendigen
Therapiemaßnahmen zu Verfügung. Auch hier steht die Orientierung an der
Alltagsnähe im Vordergrund.
Entscheidend
ist der Alltag
Wie
alltagsnah die Therapien ausgerichtet sind, zeigt die einleitende Einkaufsszene.
Frau K. wird in der konkreten Alltagssituation darin unterstützt, ihre gefühlsmäßigen
Siutoe esrwhznhe n enntedgbw&zi; uknrlirn rn auwre nvee obriednTeaistugnmtFa .Vratnsrtge rn ig&ulb,dee h r&ulgihn e udukvn Wut und Ärger zu verzögern.
In der kleinen Zeitspanne zwischen dem Gefühl und dem nachfolgenden Verhalten
kann Frau K. nun überlegen, ob die jeweils erlebte Wut überhaupt gerechtfertigt
ist um dann entsprechend zu handeln. Dies muß aber genau dort gelernt werden,
wo die Schwierigkeiten auftreten nämlich in der jeweiligen Situation.
Herr
M. beispielsweise legte bei den gemeinsamen Mahlzeiten in der Wohngruppe
ein völlig ungewöhnliches Essverhalten an den Tag Folge einer Hirnverletzung
nach einem Unfall. Als Diplom-Biologe und langjähriger Betriebsleiter hätte
er eigentlich über ein sicheres Wissen um gepflegte Tischmanieren verfügen
müssen. Bei den Mahlzeiten jedoch räusperte er sich laut und unentwegt,
schlang das Essen hastig und in sehr unansehnlicher Art hinunter und faßte
überdies etwa beim Frühstück mit den Fingern in Butter- oder Marmeladenschälchen.
Herr
M. war ganz offensichtlich nicht mehr in der Lage, soziale Situationen korrekt
einzuschätzen und Kontextinformationen angemessen zu vergleichen und zu
bewerten. Aus seiner Perspektive benahm er sich absolut richtig und sah
deshalb auch keinerlei Notwendigkeit, sich anders zu verhalten. Die eindeutigen
Rückmeldungen der Mitpatienten während der Mahlzeiten förderten seine Bereitschaft,
sich mit den eigenen Umgangsformen auseinanderzusetzen. Die gezielte Anwendung
von sogenannter Videokonfrontationen erbrachte dann die entscheidende Änderungen.
Dabei wurde sein Verhalten während der Mahlzeiten mit einer Videokamera
aufgezeichnet. Anschließend wurden diese Aufnahmen zusammen mit dem Neuropsychologen
durchgearbeitet. Damit wurde es Herrn M. ermöglicht, sein Verhalten neu
zu bewerten und als konsequent dieser Arbeit wieder zu normalen Tischmanieren
zurückzukehren.
Familie
und Beruf
Aber
nicht nur im Bereich des Alltags erweist sich dieses ganzheitliche Therapiekonzept
als sinnvoll. Auch für die eventuelle Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit
werden frühzeitige entsprechende diagnostische Verfahren eingesetzt und
Erprobungsphasen organisiert. Ist dieses im klinikinternen Rahmen einmal
nicht möglich, erfolgen die notwendigen Maßnahmen in enger Zusammenarbeit
und Kooperation mit anderen Fachinstituten wie Berufsbildungswerken, Berufsgenossenschaften,
Werkstätten oder auch wo dies sinnvoll ist - mit dem jeweiligen Arbeitgeber
des Patienten. Diese Kooperationen erweisen sich darüber hinaus als außerordentlich
wichtig, wenn es um die Planung und Organisation der Anschlußversorgung
geht. Nicht jeder Patient kann an seinen alten Arbeitsplatz zurück, manchmal
sogar ist ein Zusammenleben mit der eigenen Familie nicht mehr möglich.
Dann gilt es, gemeinsam mit den Angehörigen Möglichkeiten einer optimalen
Weiterversorgung zu entwickeln. Spätestens an diesem Punkt zeigt sich auch,
wie wichtig und notwendig die Einbeziehung der Familienangehörigen in das
gesamte Therapieprogramm ist. Je besser dies gelingt, desto wahrscheinlicher
ist eine gelungene Reintegration. Dies kann in den Wohngruppenstationen
soweit gehn,daszig Age&omlrie wnnessinvllerchin -au de ohgrpp \n itaugeomenwede koul;ne ud enPaiete drc dn esmtn ufntal \n inurh egeien
r < aig=cntr>STON>Qalt&um;t
n mch schbeahtr\rn P lin=usif>De r ThraieimRame ds llagnaenWongruppensettings geht weit über eine
normale Rehabilitationsbehandlung hinaus. Um die verursachenden Bedingungen
für die jeweiligen Defizite oder unangemessenen Verhaltensweisen erkennen
zu können, sind breite Kenntnisse und Erfahrungen im Bereich der Neuropsychologie
unabdingbar. Darüber hinaus ist eine sehr enge Zusammenarbeit mit dem Arzt
erforderlich. Oft erweist es sich nämlich als notwendig, auf die hirnphysiologischen
Veränderungen und den damit verbundenen, manchmal extrem psychischen Reaktionen
auch medikamentös einzuwirken, um so die Effizienz der übrigen therapeutischen
Maßnahmen zu steigern bzw. diese erst zu ermöglichen. Auch an die Pflegekräfte
werden hohe Anforderungen gestellt. Sie müssen aber über hochspezialisierte
Erkenntnisse verfügen, da sie weit über die normale Pflegetätigkeit hinausgehend
z. T. als Co-Therapeuten fungieren.
Um diese Qualitätsstandards zu halten, werden regelmäßig Supervisions-
und Teamkonferenzen durchgeführt sowie zahlreiche Weiterbildungsmaßnahmen
durchgeführt, die gezielt auf die jeweiligen Anforderungen ausgerichtet
sind. Trotz diesen großen Aufwandes erweist sich das Gesamtkonzept auch
als ökonomisch sinnvoll. Gerade die intensive Behandlung -fast jede Alltagshandlung
kann therapeutisch genutzt werden - führt dazu, daß sich die Therapiedauer
insgesamt verkürzt und so die Kosten für diese Art der Behandlung in vertretbaren
Grenzen halten.
Dipl.-Psych.
Friedhelm Grafweg (GNP)
Neuropsychologe an der Neurologischen Klinik Westend, Bad Wildungen